.
Über Nicolás Gómez Dávila:
»Das Recht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation kannte auch für sehr kleine oder gar kleinste politische Einheiten, die keinen Territorialherrn, sondern dem fernen Kaiser — und damit oft genug in Wahrheit niemandem — unterworfen waren, den Begriff der Reichsunmittelbarkeit. Es verblüfft, wenn sich im 20. Jahrhundert in den Anden einer als reichsunmittelbar bezeichnet, aber genau das tat Gómez Dávila, sogar auf deutsch, das er offenbar mühelos las. Reichsunmittelbarkeit war für ihn etwas Ähnliches wie der Ultramontanismus, der den deutschen Katholiken im späten 19. Jahrhundert von den Preußen unterstellt wurde, daß sie nämlich einer Macht „jenseits des Gebirges“ loyal waren. Seine Heimat war weder das durch seine Kolonialgeschichte subaltern gewordene Kolumbien noch das durch die dominante ökonomische Mentalität barbarisierte 20. Jahrhundert. Er betrachtete sich als Sohn der katholischen Kirche, die er nicht einfach als eine von mehreren christlichen Konfessionen ansah, sondern als das große Sammelbecken aller Religionen, als Erbin aller Heidentümer, als fortlebende Urreligion. Daß die Kirche nach dem II. Vatikanischen Konzil diesem Ideal nicht mehr entsprach, war niemandem schmerzhafter bewußt als ihm.«
Textauszug aus „Notas“:
»Die bequeme naturalistische Moral unserer Zeit vulgarisiert die Leiber und Seelen mit überraschender Unfehlbarkeit. Ein unbegrenztes Vertrauen in das Wohlwollen der Natur läßt uns glauben, daß es eine Verirrung sei, unseren primitiven Trieben zu widerstehen, und daß Askese eine schädliche und kränkliche Neigung sei. Damit ist so etwas wie ein hygienisches Heidentum, ein eudämonistischer Rationalismus entstanden, eine Lehre, deren Richtschnur nicht so sehr im Glück des Menschen, sondern in seiner Ruhe und Bequemlichkeit, das heißt in der Abwesenheit von Konflikten besteht. Diese Lehre gestattet es vielleicht dem Menschen, glücklich zu sein, denn die Verantwortung ist ja das, dem sich der Mensch vor allem zu entziehen sucht, weil sein Streben befriedigt wird, wenn er sich allein seinen materiellen Begierden uneingeschränkt widmet, doch wer ein edleres Hochgefühl sucht und eine edlere Vorstellung vom Menschen kennt, verabscheut eine Lehre, die Verstand und Geist zu bloßen Sklaven unserer uranfänglichen Animalität macht. Die Seelen unserer Zeitgenossen stimmen alle in einer gleichartigen Bequemlichkeit überein, nichts unterscheidet sie voneinander, und alle scheinen gleichermaßen neutral, schlaff und weich. Nur jene, die von den vielfältigen Ansprüchen des Geistes gepeinigt werden, erreichen wahre Persönlichkeit; sie allein haben Kraft und Strenge, Geschmeidigkeit und Härte. Der Leib selbst ahmt die Seele nach, und von ihr empfängt er seine höchste Form: Deshalb sehen wir dort Leiber, die in ihrer organischen Vollkommenheit reizlos sind, und Gesichter, die ausdruckslos oder ohne jede beunruhigende Schönheit sind. Hingegen zeigen selbst verkrümmte und mißgestaltete Leiber die Leidenschaft, die sie bewegt und beherrscht. In den Gesichtszügen, in den grausamen Kanten, in den harten Linien verrät der Geist, daß er anwesend und am Werk ist, wie das Wasser der sommerlichen Gebirgsströme den Boden mit seiner unwiderstehlichen Zerstörungskraft zeichnet.«
.