Kurt Tucholsky: Deutsche Richter
"Der deutsche Richter schaut durch die Brillengläser seiner Klasse: des mittleren und gehobenen Bürgertums. Was sich darüber und darunter bewegt, findet kaum Platz im Richterstand und hat als Opfer und Objekt wenig Aussicht, vor Gericht verstanden zu werden – von Außenseitern sehe ich ab. Und innerhalb dieses mittleren Bürgertums ist es wiederum der starre, der hölzerne, der eingeengte Typus, jener, der von Hunderten von Tabu-Gebräuchen umgeben ist und in Schranken liegt, die er sich zu seiner Sicherung selbst aufgerichtet hat, genährt von einer Strafpsychologie, die der alte Villers in seinen
›Briefen eines Unbekannten‹ einmal so formuliert hat: »Jedes du sollst – heißt: ich kann nicht. Jedes du sollst nicht – heißt: ich darf nicht.« [...]
Es darf vom mittleren Typus des deutschen Richter gesagt werden, dass ein geistig und intellektuell gehobener Mensch wenig Aussicht hat, mit ihm während einer Verhandlung Kontakt zu bekommen. Abgelehnt sein Pathos und seine Versuche, Moral zu predigen; abgelehnt sein sittliches Empfinden und sein Humor; abgelehnt seine Reaktion auf Schmerz, Freude, Leid und Autorität; abgelehnt seine Bilder an der Wand, seine Frau, seine Ferienstunden, abgelehnt die Luft, in der er lebt, das Bier, das er trinkt, die Kinder, die er erzieht. Abgelehnt sein Geist, abgelehnt seine Kaste, abgelehnt seine Welt.
Bezeichnend sind die Gehilfen, die er sich holt. Das nachtwandlerisch sichere Gefühl der Gerichtsbeamten für Schöffen und Geschworene bevorzugt kleinköpfigen, bramsigen Mittelstand, Untertanen, die einmal, wie Polgar das genannt hat, den Obertanen spielen wollen. Jeder umgibt sich nur mit sich selbst, und steht unsereiner vor denen, so findet er eine fremde Welt. [...]
Es gibt kein staatliches Recht des Strafens. Es gibt nur das Recht der Gesellschaft, sich gegen Menschen, die ihre Ordnung gefährden, zu sichern. Alles andere ist Sadismus, Klassenkampf, dummdreiste Anmaßung göttlichen Wesens, tiefste Ungerechtigkeit. Besteht man die Nervenprobe, einer deutschen Gerichtsverhandlung beizuwohnen: mit dem überheblichen Ton des Richters, der verächtlichen Behandlung der Verteidiger, der Primadonnenrolle des Staatsanwalts und der Ungezogenheit der Gerichtsdiener –, so ist man versucht, jeder ethischen Reflexion des Richters ein ›Eben nicht!‹ überzuziehen. Die dort geäußerten sittlichen Maximen stehen auf dem Niveau eines mittleren Konfirmandenunterrichts und muffen nach Kaserne, kleiner Beamtenwohnung und Pastorenehe."
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